In der ersten Therapiestunde blickte er auf die fünf Meter hohe Kletterwand und schüttelte den Kopf. „Was soll ich hier?“, fragte er. Sportwissenschaftler Alexander Daut erinnert sich noch genau an die erste Begegnung mit dem schlaganfallbetroffenen Patienten. Er konnte eine Körperhälfte nur geringfügig einsetzen. „Klettern zu lernen war für ihn völlig undenkbar“, sagt Daut. Das gehe den meisten Patientinnen und Patienten so. „Viele haben einen großen Respekt vor der Wand, verspüren aber auch eine große Vorfreude.“
Klettern als Therapie
Seit mehr als drei Jahren bieten die beiden Sportwissenschaftler Alexander Daut und Christoph Hofmann die Klettertherapie in der Klinik Hohe Warte in Bayreuth an. Sie haben sich spezialisiert auf die Therapie von Menschen mit Querschnittslähmungen und neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, multipler Sklerose und Schlaganfall. Die Therapie wird zwar individuell angepasst, doch der grundsätzliche Ablauf ähnelt sich meist: „Am Anfang geht es vor allem darum, auszuprobieren, was funktioniert und was nicht“, erklären die Experten. An welchen Griffen finden meine Hand und mein Fuß am besten Halt? Kann ich mein Gewicht verlagern?
Das sichere Gefühl
Wichtig ist, dass sich die Patientinnen und Patienten immer sicher fühlen Bei Übungen in geringer Höhe stehen die Therapeuten in Habachtstellung bereit. Geht es höher hinauf, wird mit Gurt und Seil gesichert. Die Therapeuten helfen gegebenenfalls auch dabei, einen Fuß richtig zu platzieren oder eine Spastik in der Hand zu lösen, damit der Betroffene zugreifen kann. Im zweiten Schritt lernen die Betroffenen meist, seitwärts im Quergang zu klettern. „Schlaganfall-Betroffene sollten dabei zuerst versuchen, in Richtung ihrer gesunden Seite zu klettern, weil das zu Beginn einfacher ist. Die (noch) größere Herausforderung ist es dann, auch in Richtung der betroffenen Seite zu klettern.
Bewegungsabläufe ähneln dem Krabbeln
Es gibt eine einfache These, warum Klettern als Therapie so gut geeignet ist: Die Bewegungsabläufe ähneln dem Krabbeln und sind bei allen Menschen von Natur aus angelegt. Die Erfolge an der Kletterwand haben auch meist Auswirkungen auf den Alltag, sagen die Sportwissenschaftler. Der Gang wird sicherer, das Gleichgewicht verbessert sich, die Muskulatur des Rumpfes und der Extremitäten wird gestärkt und die Angst, sich zu bewegen, schwindet. Zusätzlich kann man mit Klettern die Bewegungskoordination, die Beweglichkeit der Gelenke und die Ausdauer verbessern.
Klettern bringt Erfolgserlebnisse
Klettern kann enorme Erfolgserlebnisse für Betroffene sowie Angehörige schaffen und verhilft dazu, wieder Vertrauen in den eigenen Körper zurückzugewinnen. „Nicht zu vergessen: Es macht riesig Spaß!“, betont Hofmann. „Und der Schlaganfall-Betroffene, der die Therapie am Anfang angezweifelt hat, ist in der letzten Stunde tatsächlich ein paar Meter in die Höhe geklettert. Er wollte danach unbedingt auch privat weiter klettern gehen“, freut sich Daut.
Therapeutisches Klettern wird noch nicht flächendeckend angeboten. Daut und Hofmann raten, sich bei den umliegenden Kletterhallen (private Hallen oder Hallen des Alpenvereins) nach entsprechenden Angeboten zu erkundigen. Klettergruppen für Menschen mit multipler Sklerose sind bereits verbreitet, Schlaganfall-Betroffene können sich dort nach Rücksprache mit den Therapeuten/Trainern gegebenenfalls anschließen. Auch Physiotherapie-Praxen haben zum Teil kleinere Kletterwände.
Informationen zu Anbietern von Klettertherapie finden Sie hier:
„Therapie mal anders“ stellt Therapiemethoden vor, die nicht immer wissenschaftlich belegt sind, aber von Schlaganfall-Betroffenen häufig als hilfreiche oder angenehme Ergänzung zu den klassischen Therapien empfunden werden.