Im Interview:
Lisa Spreitzer
Ergotherapeutin mit Weiterbildung zur Sexualtherapeutin
Beim Wort „Berührung“ denken viele nur an sexuelle Berührungen. Welche Rolle spielt das Thema im Alltag?
Spreitzer: Im normalen Alltag berühren wir oft andere Menschen – völlig ohne sexuelle Hintergedanken. Wir reichen Fremden die Hand, streifen bei Veranstaltung in der Menschenmasse die anderen, berühren uns bei Gesprächen, knuddeln Freunde und Familie, liegen den Sportkameraden bei Erfolgen in den Armen oder spenden anderen durch Berührung Trost. Wie oft wir andere berühren haben viele Menschen wohl erst gemerkt als wir zwangsläufig darauf verzichten mussten.
Brauchen wir zwingend Berührung?
Spreitzer: Das Bedürfnis nach Berührung ist bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Manche vermissen es sehr stark, andere weniger. Ich selbst habe ein Mann und ein Kind, mit denen ich selbstverständlich oft in Berührung komme. Trotzdem vermisse ich auch den körperlichen Kontakt zu anderen. Wenn die beste Freundin mit über einem Meter Abstand vor einem steht und man sich zur Begrüßung nicht umarmt, macht das was mit einem. Wer allein lebt, erlebt seit der Pandemie wahrscheinlich sehr wenig körperliche Nähe – und vielen fällt es zunehmend schwer, darauf zu verzichten. Mangelnde Berührung kann psychischen Stress auslösen und dadurch letztendlich auch körperlich krank machen.
Was macht Berührung mit den Menschen?
Spreitzer: Bei angenehmen Berührungen werden zum Beispiel Oxytocin und Serotonin ausgeschüttet – umgangssprachlich auch „Kuschelhormon“ und „Glückshormon“ genannt. Fehlt die Berührung, werden bestimmte positive Botenstoffe nicht ausgeschüttet, was langfristig Depressionen oder Ängste hervorrufen kann. Es gibt auch Untersuchungen, die zeigen, dass Berührung den Blutdruck senken kann. Außerdem belegen zahlreiche Studien, wie wichtig körperliche Nähe in der ersten Lebensphase ist. Das erfahre ich bei meiner Arbeit in der Psychiatrie immer wieder: Viele Patienten mit Depressionen oder Borderline-Störungen berichten von einer Kindheit mit wenig Nähe und Zuneigung. Wenn mangelnde Nähe Kinder so sehr prägt, ist es einleuchtend, dass das auch bei Erwachsenen Auswirkungen hat.
Hilft es, sich selbst zu berühren?
Spreitzer: Ja und nein. Wenn man sich selbst berührt, gibt es keine Hormonausschüttung. Das Gehirn weiß, dass die Berührung durch einen selbst kommt. Aus diesem Grund kann man sich auch nicht selbst kitzeln. Aber: Selbstberührung kann dennoch helfen, zu entspannen. Menschen berühren sich selbst im Gesicht, um sich zu beruhigen und Stress abzubauen – etwa 400 bis 800 Mal am Tag. Ganz unbewusst. Das ist weltweit so, unabhängig vom kulturellen Hintergrund.
Wie kann mangelnde Berührung ersetzt werden?
Spreizer: Wer die Nähe zu anderen vermisst, sollte sich jetzt noch intensiver um sich selbst kümmern. Es sich gemütlich machen, vielleicht einkuscheln mit einer Decke, Tee und Kerzen. Einige Angebote sind auch in Corona-Zeiten nutzbar, zum Beispiel medizinische Massagen oder eine Cranio-Sacrale-Therapie. Ich hoffe, dass sich die Situation bald wieder ändert. Und vielleicht wissen wir die Berührungen dann umso mehr zu schätzen.
Lisa Spreitzer ist ausgebildete Ergotherapeutin und hat eine Weiterbildung zur Sexualtherapeutin absolviert. Sie ist Autorin unserer Broschüre „Liebe, Lust und Leidenschaft – Sexualität nach Schlaganfall“.