Selbst Menschen, die früher wie ein Wasserfall reden konnten, bringen nach einem Schlaganfall oft kein einziges Wort mehr heraus. "Das ist eine traumatisierende Erfahrung", sagt der Aachener Neurologe Walter Huber während des Online-Kongress "Aphasie 4.3". Über den Schock und die Trauer nach dem Verlust der Sprache tauschten sich Expertinnen und Experten intensiv am zweiten Kongresstag aus. Wie radikal sich das eigene Leben nach einer Aphasie wandelt, davon erzählten die Betroffenen selbst am dritten Kongresstag.
Wenn die Sprache plötzlich fehlt
Früher war sie Informatiklehrerin. Sie stand voll im Leben. Hatte viele Freundinnen. Dann kam vor zwölf Jahren der Schlaganfall und die Aphasie. „Es war für mich wirklich ganz furchtbar, dass ich plötzlich nicht mehr sprechen und lesen konnte“, gestand Annett im Sonntagsforum. Nur eines sei für sie noch schwerer zu verkraften gewesen: „Viele Freundinnen sind gegangen.“ Diese Erfahren machten jedoch viele Aphasiker, wie Mara, die bereits seit ihrem 14. Lebensjahr betroffen ist. „Durch die Aphasie lernt man, was echte Freunde sind.“ Auch Maras Verlobter Jörn weiß, wie es ist, wenn man eines Tages aufwacht und kein Sterbenswort mehr sagen kann. Zwei Tage lang lag er im Koma: „Ich war dem Tod nahe.“ Mit intensiven Therapien kämpft er sich bis heute zurück ins Leben. Wie anstrengend das ist, bestätigt Matthias Beck. „Manchmal könne man es vor Ungeduld kaum aushalten“, sagt er.
Auch die Seele leidet
Als Mensch mit Behinderung muss man ziemlich cool sein. Oder versuchen, es zu werden. Denn wie die Umwelt reagiert, traumatisiert zusätzlich. Davon berichtete die aphasische Psychologin Marina Fraas in beiden Foren: „In meiner Ausbildung bin ich häufig gekränkt worden, überhaupt habe ich mich richtig diskriminiert gefühlt in der Gesellschaft.“ Durch Psychotherapie sei es ihr gelungen, selbstbewusst zu werden und sich zu wehren. Wie notwendig dies ist, unterstrich Matthias Beck. Auch er entschied sich irgendwann, selbstbewusst zu kämpfen: „Ich hab mir gesagt, du wirst jetzt entweder ein Statist in einem Zombie-Film, oder du kriegst dein Leben wieder auf die Reihe.“
Psychotherapie als Schlüssel der Therapie?
Benjamin Stahl, Professor für klinische Psychologie in Berlin, weiß aus vielen psychotherapeutischen Sitzungen mit Aphasikern, wie viel seelisches Leid es auslösen kann, durch eine Aphasie plötzlich zum Außenseiter zu werden. „Nach einem Schlaganfall schließen sich viele Türen“, bestätigt er. Lebenspläne werden zerschlagen, seelische Wachstumsprozesse unterbrochen. Es gelte, fortan „anders zu wachsen“. In der Psychotherapie könnten entsprechende Möglichkeiten ausgelotet werden, so der Wissenschaftler, der im Herbst in Berlin eine erste Forschungsambulanz für Psychotherapie bei Aphasie eröffnen wird. Die Frage, ob und inwieweit Psychotherapie bei Aphasie helfen kann, ist laut Stahl noch nicht beantwortet. Grundsätzlich sei es möglich, psychisches Leiden durch Gespräche zu lindern. Sprachschwierigkeiten könnten durch die Einbeziehung von Bildern in die Psychotherapie überwunden werden.
Identitätskrise durch Aphasie
Oft wird verkannt, dass gerade Menschen, die nicht sprechen können, ein reiches Innenleben haben. Die Sprachheilpädagogin Karina Lønborg aus Dänemark weiß das. In ihrer Sprachtherapie geht es deshalb nicht nur darum, Wörter oder Grammatik zu üben. „Es ist wichtig, zu spüren, dass da ein Mensch ist, der in einer Krise steckt“, betont sie. Oft sieht Karina Lønborg Identifikationsprobleme: „Nach der Aphasie taucht die Frage auf, wer man denn nun als Mensch eigentlich ist.“ Früher sei man vielleicht der Witzigste in jeder Runde gewesen. Oder jemand, der bei Problemen immer gefragt wurde. Plötzlich fragt niemand mehr. Und keiner lädt mehr ein.
Musik gegen die Sprachlosigkeit
Die eigene Sprache nach einem Schlaganfall neu lernen zu müssen, ist etwas ganz anderes als sich eine Fremdsprache anzueignen. Diese Ansicht vertritt Franz Miller, Musiktherapeut aus Oberbayern. „Es ist frustrierend, ein Wort, das man sein Leben lang, ohne nachzudenken verwendet hat, nicht mehr aussprechen zu können.“ In seiner 2008 gegründeten Praxis für Musiktherapie hat sich Miller der Sprachförderung mit Musik verschrieben. Sein Konzept VOcADrUM, das er bei „Aphasie 4.3“ vorstellte, basiert auf Vokaltrommeln. Miller übt mit Silben, die zusammengesetzt keine sinnvollen Wörter und Sätze ergeben. Um den Patienten und Patientinnen Frustration zu ersparen.
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