Singen gegen Sprachlosigkeit

Singen gegen Sprachlosigkeit

Wolfgang Bäumer ist voll ausgelastet als Musiker, Komponist, Arrangeur – doch für eine Probe "seines" Chors nimmt er fast jede Anstrengung auf sich. Einen solchen Chor gibt es nicht oft...

Veronika, der Lenz ist da, schallt es aus elf Kehlen, und tatsächlich lässt sich in diesem Moment die erste Frühjahrssonne über der Hauptstadt blicken. "Schon ganz gut", dosiert Chorleiter Wolfgang Bäumer sein Lob. Der Chorabend ist noch lang, da braucht man Luft nach oben.

Musik berührt andere Hirnareale als die Sprache

Dass die acht Frauen und drei Männer diesen alten Schlager überhaupt über die Lippen bringen, grenzt an ein Wunder. Alle haben einen Schlaganfall erlitten und leiden seither an einer Aphasie (Sprach- und Sprechstörung). Wenn die Gespräche auch manchmal stocken, der Gesang ist flüssig. Musik berührt andere Hirnareale als die Sprache. So ist zu verstehen, dass viele Betroffene Worte nicht mehr sprechen, aber singen können. Erwiesen ist aber, dass das Singen dennoch das Sprachvermögen schult. Neurologinnen und Logopäden empfehlen es vielen Aphasikern aus therapeutischen Gründen. Chorleiter Bäumer geht noch weiter: Er würde Singen am liebsten allen Menschen verordnen.

 

"Die Musik, das Atmen, das Gemeinschaftserlebnis – das ist ein Gesamtpaket", so Bäumer. "Es setzt einfach so viel frei. Bei den Schlaganfall-Patienten kommt der therapeutische Aspekt hinzu." Seit 2014 leitet er den Aphasie-Chor Berlin, den Logopädin Mona Samuel einst gegründet hatte. In den besten Zeiten kamen 30 Sängerinnen und Sänger zu den Proben, doch Corona bremste das Projekt aus. "Wir sind jetzt wieder im Neuaufbau", erklärt Bäumer.

 

Unterdessen zündet er in der Chorstunde die nächste Schwierigkeitsstufe. Die Operettenmelodie "Im weißen Rössl..." ist schon anspruchsvoller, sowohl im Text als auch in der Musik. "Könnt ihr noch?", ruft Chorleiter Bäumer in den Raum. "Wir sind hier, um zu können!", kontert eine ältere Dame typisch berlinerisch. Kurzes Gelächter in der Gruppe, und weiter geht es im Programm.

"Das Singen tut mir unheimlich gut"

"Ich komme so gern hierher", schwärmt Teilnehmerin Barbara in der Pause. "Das Singen tut mir unheimlich gut", schildert sie in leicht stockender Sprache. Weiter geht es mit "Der Mai, der Mai...". Vor dem Singen kommt das Lesen, schwierig genug für manche Teilnehmende. Dann wird das Ganze in eine Melodie gehüllt, und schon passieren erstaunliche Dinge. "Nach ein paarmal singen kann ich den Text jetzt auch sprechen", freut sich eine Teilnehmerin.

 

Zwei Herausforderungen hat Bäumer sich für den Schluss aufgehoben. Mit "Amazing Grace" singt die Gruppe den ersten englischsprachigen Song, der eine oder die andere mag dabei Gänsehaut bekommen. Und "Alle Vöglein sind schon da" wird im Kanon schließlich zum anspruchsvollen Finale. "Das war richtig gut!", ruft Bäumer und fügt schmunzelnd hinzu: "Man könnte sagen, das klingt wie ein Chor." Erneutes Gelächter, es hat Spaß gemacht. In zwei Wochen werden alle wiederkommen. Sie freuen sich schon jetzt darauf.

 

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