Möchte anderen Mut machen

Ruth Pietsch musste am eigenen Leib spüren, wie sich ein Schlaganfall anfühlt. Als Ergotherapeutin behandelt sie nun selbst Schlaganfall-Betroffene.

2019 fasst Ruth Pietsch den Entschluss, sich beruflich neu zu orientieren. Was sie nicht ahnen kann: Ihr neues Wissen als angehende Ergotherapeutin wird ihr schon bald selbst helfen. Es ist ein Montag im Oktober 2020. Die damals 53-Jährige leistet gerade ein Praktikum in einem Pflegeheim, als sie spürt: Da stimmt was nicht! Sie fühlt sich „komisch“, ihr linkes Bein ist schwächer, doch sie kann die Symptome nicht zuordnen. Am nächsten Tag geht sie zum Hausarzt, der schickt sie zum MRT – Diagnose: Schlaganfall! „Dann ging es gleich auf die Stroke Unit, die Schlaganfall-Station in Friedrichshafen“, erzählt Ruth Pietsch.

 

Erste Therapien und zahlreiche Untersuchungen folgen. Ruth Pietsch hat immer gesund gelebt, hat sich viel bewegt und ausgewogen ernährt. Die Ursache für ihren Schlaganfall findet man nicht. Sie gehört zu den rund 30 Prozent der jährlich 270.000 Schlaganfall-Betroffenen in Deutschland, die mit der Ungewissheit weiterleben müssen. „Ich habe mit veganer Ernährung begonnen und mache jetzt noch mehr Sport, zum Schutz vor einem zweiten Schlaganfall“, sagt sie. Die Reha in den Schmieder Kliniken Gailingen bringt sie körperlich weit voran. Äußerlich fast gesund kehrt sie zurück nach Hause.

 

Doch oft sind es gerade die unsichtbaren Folgen eines Schlaganfalls, die den Betroffenen zu schaffen machen. Etwa 80 Prozent der Patientinnen und Patienten leiden unter so genannten neuropsychologischen Beeinträchtigungen. Sie können sich schlecht konzentrieren, werden vergesslich, sind manchmal desorientiert und geistig schnell erschöpft. Häufig bilden sich die Symptome nach einiger Zeit zurück. Bei Ruth Pietsch bleiben sie hartnäckig. Ob sie ihre Ausbildung fortsetzen kann, ist ungewiss. Mit ihrer Ausbildungsstätte vereinbart sie eine einjährige Auszeit.

Ruth Pietsch nutzt die Zeit intensiv für sich. Als angehende Ergotherapeutin kennt sie viele Übungen aus dem Hirnleistungstraining. Sie stellt sich ihr eigenes Programm zusammen, trainiert ihr Gehirn eisern täglich 4 bis 5 Stunden. Außerdem bewegt sie sich viel, läuft im Wald. Speziell das Gehen auf unebenem Boden scheint auch ihr Gehirn zu trainieren. Nach einem halben Jahr hat sie deutliche Fortschritte gemacht und nimmt ihre Ausbildung wieder auf. Sie hat noch ein Jahr bis zum Abschluss. „Es wurde das härteste Jahr meines Lebens“, erinnert sie sich heute. Doch es lohnt sich. 2022 nimmt sie stolz ihr Examen entgegen.

 

Ende gut, alles gut? Ruth Pietsch hat schon viel geschafft auf ihrem Weg zurück ins Leben.

Es ist fantastisch zu sehen, wie sich ein Gehirn verändern kann.
Ruth Pietsch

"Aber ich musste auch lernen, dass ich Ruhepausen brauche, damit sich diese neuen Verknüpfungen festigen können.“ Voll belastbar ist sie bis heute nicht, das Gedächtnis ist noch immer nicht voll zurück. „Ich glaube, so wie früher wird es nicht mehr. Aber ich habe Strategien gefunden, damit umzugehen, mache mir viele Notizen“, sagt sie.

 

„Ich bin überglücklich, dass ich es gewagt habe, die Berufsausbildung weiterzuführen, und es auch geschafft habe. Mein Beruf macht mich glücklich.“ Ruth Pietsch arbeitet jetzt in Teilzeit (40 Prozent) in einer Praxis für Ergotherapie. Dort behandelt sie viele neurologische Patienten. „Ich kann mich in sie hineinversetzen und weiß, wie hilflos man sich fühlt“, sagt sie. Vor den Therapien macht sie mit ihren Patienten eine Bewegungseinheit. Sie hat selbst erlebt, dass Bewegung auch dem Hirn hilft, und weiß nun auch, dass das wissenschaftlich belegt ist. „Meine größte Freude ist es, Verbesserungen bei den Patienten zu sehen“, erklärt sie ihre hohe Motivation bei der Arbeit. „Und wenn es mir gelingt, die Patienten dahin zu bringen, diese Verbesserungen selbst wahrzunehmen.“ Nicht nur als Therapeutin, auch als Mensch hat sie eine Mission: „Mit meiner Geschichte möchte ich anderen betroffenen Menschen Mut machen und zeigen, zu welchen Leistungen ein erkranktes Gehirn fähig sein kann.“

 

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