Der Schlaganfall begleitet Sandra Rahm durch ihr Leben. Als Kind erlebt sie die Krankheit erstmals bei der Großmutter. Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin geht sie in die Neurologie, macht auf der Stroke Unit (Schlaganfall-Station) im Klinikum Bergmannsheil die Fachweiterbildung und ist hochqualifiziert für die akute Schlaganfall-Behandlung. Dank der Stroke Units können heute fast doppelt so viele Menschen einen Schlaganfall überleben wie noch vor 30 Jahren. Doch was kommt danach? Für viele Betroffene und Angehörige fangen die Probleme dann erst an. „Ich sah oft, wie wir Menschen gerettet haben,“ sagt Sandra Rahm, „aber leider nicht, wie es ihnen danach erging. Das empfand ich zunehmend sehr unbefriedigend."
Sandra Rahm studiert Gesundheitswissenschaften und lässt sich zur Case und Care Managerin ausbilden. Mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung geht sie in die Pflegeberatung. „Wir schauen, wie es nach dem Krankenhaus für die Patienten weitergeht“, erklärt sie ihre Aufgabe. „Wie läuft die häusliche Versorgung? Brauchen wir einen Pflegedienst? Sind Hilfsmittel notwendig? Als Pflegeberater haben wir eine Art Lotsenfunktion.“
Im Dezember 2018 kommt sie dann schlagartig in die Situation, Lotse der eigenen Familie zu werden. Vater Udo Rahm erleidet einen schweren Schlaganfall, wird von jetzt auf gleich zum Pflegefall.
Seine Prognose ist mehr als schlecht. Er liegt gelähmt im Bett, hat seine Sprache verloren und wird über eine Sonde ernährt. „Wenn ich mir seinen Zustand von damals und die CT-Bilder seines Gehirns anschaue, konnte man eigentlich wenig Hoffnung haben“, erinnert sie sich heute. So gesehen hat er sich in den letzten Jahren gut entwickelt. Die Sprache ist weiter gestört, doch er kann wieder laufen und nimmt am Leben teil. Ehefrau Elisabeth wird durch Sandra Rahm und die Familie unterstützt. So kommt ihr Vater ohne einen Pflegedienst aus. Die familiäre Erfahrung hat Sandra Rahms berufliches Handeln nachhaltig beeinflusst. „Aus der Angehörigenperspektive konnte ich plötzlich sehen, auf wie viele Fragen man keine Antworten bekommt“, erklärt sie. „Heute kann ich Angehörigen Fragen beantworten, von denen sie noch gar nicht wissen, dass sie sich stellen werden.“
Was sie nach dem Schlaganfall ihres Vaters erlebt, fasst sie in einem Buch zusammen. Im November 2023 erschient „Da trifft uns der Schlag“ – ein Erfahrungsbericht und Ratgeber von und für Schlaganfall-Betroffene und ihre Angehörigen. „Dieses Buch kann ich nur allen, die mit diesem Schicksalsschlag zu tun haben, empfehlen. Es liest sich spannend und die Kombination aus Betroffener und professioneller Krankenschwester vereint den Erfahrungsbericht mit medizinischem Wissen“, urteilt Schwiegermutter Ursula Heymann, die sich für Sandras Nominierung zum Motivationspreis stark macht. Neun Monate schreibt Sandra Rahm an dem 216 Seiten starken Ratgeber.
In ihrem Job erlebt sie häufig, wie Angehörige auf der Strecke bleiben. „Man müsste ihnen eigentlich viel mehr erklären und sie stärken, doch dafür bleibt im Alltag meist keine Zeit.“ Mit ihrem Ratgeber will sie diese Lücke zumindest ein klein wenig schließen.
In der Pflegeberatung erhält Sandra Rahm oft tiefe Einblicke in Familiengeschichten. „Da ist häufig viel mehr notwendig als die Krankenversorgung. Aber Angehörigenberatung oder Familienkonflikte lösen gehört nicht zu meinen Aufgaben“, sagt sie. Deshalb bildet sie sich weiter fort, lässt sich zum systemisch-lösungsorientierten Coach ausbilden und absolviert zusätzlich eine Ausbildung zur Mediatorin. „Durch diese vielen verschiedenen Blickwinkel und Aspekte bekomme ich ein kompletteres Bild von den Menschen und ihren Situationen und kann sie besser unterstützen.“ Mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen berät und coacht sie nun nebenberuflich Menschen in herausfordernden Situationen.
„Ich denke, in jedem Menschen stecken die Ressourcen, ein glückliches Leben führen zu können“, ist ihr Leitmotto. „Manchmal bedarf es nur ein wenig Unterstützung und eines kleinen Schubs, dies auch alles sehen zu können.“ Schlaganfall-Betroffenen gibt sie vor allem einen Ratschlag: „Es gibt viele Hilfen: man muss den Mut haben, danach zu fragen und sie einzufordern.“