Wir fahren immer zweigleisig

In der Uniklinik Essen spielte Privatdozentin Dr. Anna Mitchell lange in der "Bundesliga" der Inneren Medizin, bis sie 2017 in Dorsten "Die Blutdruck Praxis" eröffnete, um "die Qualität der Universitätsmedizin in die Fläche zu tragen", wie sie selbst sagt.

Privatdozentin Dr. Anna Mitchell

Im Interview
Privatdozentin Dr. Anna Mitchell
Inhaberin der "Blutdruck Praxis"

 

Mario Leisle sprach mit der ausgewiesenen Expertin über die Möglichkeiten der Hochdruck-Therapie.

 

  • Frau Dr. Mitchell, welche Werte streben Sie bei der Behandlung Ihrer Patientinnen und Patienten an?

Je jünger der Mensch ist, desto niedriger versuche ich, den Blutdruck einzustellen.

  • Bei jungen Menschen landen wir oft bei 120 mmHg für den systolischen Blutdruck, wenn die Blutdrucksenkung medikamentös erfolgt. Eine Erhöhung der Medikamentendosis empfehle ich dann nicht mehr.
  • Ab 40 strebe ich Werte zwischen 120 und 130 mmHg für den systolischen Blutdruck an. Dabei bleibe ich, bis erkenntlich wird, dass es für die Menschen nicht mehr gut verträglich ist, zum Beispiel, weil Schwindel auftritt, wenn sie sich beim Bücken zu schnell aufrichten.

 

  • Orientieren Sie sich dabei an der aktuellen Behandlungsleitlinie?

Grundsätzlich ja. Leitlinien sind unabdingbar, weil man heute gar nicht mehr überall auf der Höhe der Zeit sein kann. Aber ärztliche Kunst besteht aus einer sehr großen Sachkenntnis, gepaart mit der Fähigkeit, mit Leitlinien kreativ umzugehen. Jede Patientin und jeder Patient hat eine eigene Geschichte, und ich muss vielleicht Leitlinien für mehrere Krankheitsbilder berücksichtigen.

 

  • Passiert es Ihnen manchmal, dass Sie Werte zu sehr senken?

Da ich sehr vorsichtig vorgehe und den Patienten keinen Gefallen mit einer zu schnellen Senkung tue, fangen wir mit der Dosierung fast immer niedrig an und tasten uns heran. Nach sechs Wochen, spätestens nach drei Monaten, haben wir die richtige Dosierung gefunden. Eine Überdosierung passiert sehr, sehr selten.

 

  • Sollte nicht vor den Medikamenten eine Anpassung des Lebensstils stehen?

Wir fahren immer zweigleisig.

Ich versuche, die Leute da abzuholen, wo sie stehen.

Häufig sind die Menschen mit Lebensstiländerungen, die prinzipiell dringlich wären, überfordert. Niemand führt schließlich sein Leben grundlos so, wie er oder sie es tut. Deshalb sage ich ihnen: Wir machen jetzt erstmal ihren Blutdruck schön, das machen wir mit Medikamenten! Dann müssen Sie sich vor den möglichen Gefahren des Bluthochdrucks nicht mehr ängstigen und wir verhindern Organschäden. Und dann beginnen wir, die anderen Sachen aufzurollen und zu überlegen, was wir verbessern können, damit wir vielleicht die Medikation wieder reduzieren können.

 

  • Welche Maßnahme hat Vorrang?

Den Rauchern sage ich: Sie müssen erstmal aufhören zu rauchen, denn gegen das Rauchen kommen wir mit allem, was wir hier machen, nicht an. Jede Zigarette weniger ist ein Gewinn. Das sage ich bei jedem Praxisbesuch. Häufig wirkt das dann irgendwann, aber es dauert seine Zeit.

 

  • Wie ist es mit dem Gewicht?

Bei übergewichtigen Menschen sage ich: Versuchen Sie doch erstmal, dass Sie ein Jahr nicht zunehmen! Wenn Sie das geschafft haben, können wir uns darüber unterhalten, wie Sie langsam abnehmen, wenn Sie das möchten. Ich drängle nicht: Wenn man die Gewichtsabnahme zu sehr in den Vordergrund stellt, fühlen sich die Menschen nicht als Mensch angenommen. Dann schalten sie ab und ich erreiche sie nicht mehr. Wenn der Wunsch nach Gewichtsabnahme aber stark ist und schon viel versucht wurde, was nicht geklappt hat, verordne ich auf Wunsch auch Medikamente, die beim Abnehmen helfen sollen.

 

  • Brauchen Patientinnen und Patienten mehr Unterstützung bei der Lebensstiländerung?

Der Wunsch danach muss aus den Menschen kommen. Ich mache es so: Problembehaftete Patienten bestelle ich häufiger zu mir ein. Und wenn die nur hereinkommen und wir wechseln ein paar Worte, dann schaffen wir es vielleicht, über den regelmäßigen Kontakt eine Ebene zu finden, auf der wir über bestimmte Sachen besser reden können. Und dann schauen wir, ob wir einen gemeinsamen Plan finden. Das ist des Rätsels Lösung, wenn wir uns beide einig sind über das, was wir erreichen wollen.

 

  • Nach einem Schlaganfall plagt viele Menschen die Angst vor einem zweiten. Da entsteht schnell ein Teufelskreis, weil sich der Blutdruck dadurch erhöht.

Alle Menschen, denen so etwas passiert ist, haben die Erfahrung gemacht, dass das Leben endlich ist.

Ich finde diese Angst sehr verständlich.

Wenn sie sehr ausgeprägt ist und die Lebensqualität beeinträchtigt, biete ich an, ein angstlösendes Medikament einzunehmen. Erst einmal in einer niedrigen Dosierung und nur abends. Ich ermutige die Menschen auch, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen oder sich in Selbsthilfegruppen zu organisieren. Aber in meiner Praxis muss ich mich auf das Gespräch beschränken und darauf, was ich mit Medikamenten erreichen kann. Mit einer angstlösenden Medikation kann ich häufig sehr viel erreichen, was dann an blutdrucksenkender Medikation deutlich spart.

 

  • Wie können wir die Behandlung des Bluthochdrucks in Deutschland weiter verbessern?

Wir haben viele sehr gute und wirksame Medikamente. Ich würde mir nur wünschen, dass nicht so viele meiner Kolleginnen und Kollegen denken, dass Blutdruck-Einstellung ein Selbstläufer ist. Kombinationspräparate zu verordnen, damit die Zahl der Tabletten abnimmt, ist erwiesenermaßen richtig und wichtig, wird aber noch zu wenig getan. Mittelfristig sehe ich eine Perspektive in einer Verbesserung der Gesundheitserziehung. Es gibt Ansätze, dass Gesundheit als Fach in der Schule unterrichtet werden sollte. Das finde ich gut.

 

Menschen sensibilisieren 

„Stopp den Schlaganfall – Blutdruck im Blick“ lautet das Motto des Tags gegen den Schlaganfall am 10. Mai. Bundesweit soll der Aktionstag Menschen für die Risikofaktoren eines Schlaganfalls sensibilisieren und ermuntern, sich frühzeitig untersuchen zu lassen.