Neurokognitive Rehabilitation und das Perfetti-Konzept

Jasmin Wolf und Birgit Rauchfuß sind Ergotherapeutinnen und arbeiten seit vielen Jahren mit Schlaganfall-Patientinnen und -Patienten. Im Interview erklären sie, welche Rolle die Neurokognitive Rehabilitation und das Perfetti-Konzept in der Therapie spielen.

Im Interview:

Jasmin Wolf

Jasmin Wolf
Ergotherapeutin im Alfried Krupp Krankenhaus Essen

Birgit Rauchfuß

Birgit Rauchfuß
Ergotherapeutin mit eigener Praxis in Recklinghausen

  • Welche Bedeutung hat die Ergotherapie in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall?

Jasmin Wolf: Die Ergotherapie spielt eine zentrale Rolle in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall, insbesondere bei der Wiederherstellung von Alltagsfunktionen. Das Ziel ist es, Patienten dabei zu unterstützen, ihre Selbstständigkeit in täglichen Aktivitäten wie Anziehen, Essen, Schreiben oder Haushaltsaufgaben wiederzuerlangen.

 

  • Was versteht man unter dem Perfetti-Konzept?  

Birgit Rauchfuß: Das Perfetti-Konzept konzentriert sich auf die Wiederherstellung motorischer Fähigkeiten durch die Aktivierung kognitiver Prozesse. Denn jede Bewegung fängt im Kopf an. Deshalb kann man nicht ohne die kognitiven Prozesse des Menschen in der Rehabilitation arbeiten.

Das Konzept der neurokognitiven Rehabilitation, besser bekannt als „Perfetti-Konzept“, wurde von dem italienischen Neurologen Prof. Carlo Perfetti für die Behandlung von Patientinnen und Patientin entwickelt, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt sind. Bei der Therapie nach dem Perfetti-Konzept werden Bewegungen nicht isoliert geübt, sondern mit kognitiven Prozessen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Problemlösung verknüpft.

  • Was beutet das genau? 

Birgit Rauchfuß:  Rehabilitation ist ein Lernprozess. Der Mensch ist komplex – Bewegung, Wahrnehmung und kognitive Leistungen sind als funktionelle Einheit zu sehen. Beim Perfetti-Konzept werden Bewegungen deshalb nicht isoliert trainiert, sondern durch die Aktivierung des Gehirns gesteuert. Der Patient wird angeleitet, Bewegungen bewusst wahrzunehmen und zu steuern. Denn bevor eine Bewegung ausgeführt wird, soll der Patient lernen, sie mental zu planen und zu fühlen. Dies fördert die Wiederherstellung von gestörten neuronalen Verbindungen. Nach einem Schlaganfall muss das Gehirn nämlich lernen, dass andere Bereiche Aufgaben der geschädigten Bereiche übernehmen müssen. 

 

Bei Veränderungen wie Spastizität hilft es deshalb nicht, dass ein Therapeut von außen die Muskulatur dehnt und den Arm „passiv“ durchbewegt. Der Patient muss diese Veränderungen wahrnehmen und verstehen, wann und wie sie entstehen und lernen, mittels seiner kognitiven Fähigkeiten, diese zu verändern. 

 

  • Können Sie ein Beispiel nennen? 

Birgit Rauchfuß: Im Prinzip haben wir immer eine Erwartung an etwas. Wenn wir zum Beispiel ein Ei greifen wollen; ist das Ei kalt oder warm, ist es rutschig, wie fühlt es sich an. Das Ei zu greifen ist dann ein komplexer Erkennungsprozess. Das Gehirn muss die Gelenkstellung der Hand, die Eioberfläche, das Gewicht des Eis und vieles mehr erkennen.

 

Damit das alles funktioniert, muss die Körperwahrnehmung funktionieren, damit das Gehirn alle wichtigen Informationen aus dem Körper und der Umwelt verarbeiten kann, die für die Planung und Durchführung der Bewegung wichtig sind. Die Wahrnehmung ist also ein bedeutender Teil der Bewegung. Bewegung erzeugt Information und diese Information ermöglicht Bewegung. Ist dieser Informationskreislauf z.B. nach einem Schlaganfall gestört, können keine normalen Bewegungen entstehen.

 

  • Welche Störungen sind nach Schlaganfall am häufigsten? 

Jasmin Wolf: In der kurzen Akutphase auf der Stroke Unit fallen am deutlichsten Störungen der Sensibilität, des Gleichgewichtsinns sowie der visuellen Wahrnehmung auf. In der ambulanten Phase zeigen Patienten Einschränkungen im Bereich Sensibilität, der Bewegungsempfindung und Druckwahrnehmung, die im unmittelbaren Zusammenhang mit den motorischen Einschränkungen stehen. 

 

  • Wie lässt sich das behandeln? 

Jasmin Wolf: Durch spezifische kognitiv-therapeutische Übungen werden die betroffenen Wahrnehmungsbereiche gezielt angesprochen. Ziel ist es, die betroffenen Regionen des Gehirns zu stimulieren, um so eine funktionale Verbesserung zu erreichen. Dabei steht die Verbindung von Bewegung, Wahrnehmung und kognitiven Prozessen im Fokus.

 

  • Wie kann eine solche Übung oder eine Therapiestunde aussehen? 

Jasmin Wolf: Eine Therapiestunde orientiert sich an der individuellen Situation des Patienten und variiert je nach Phase der Rehabilitation. In der Akutphase kann die Therapie beispielsweise mit einfachen Übungen zur Sensibilisierung und Fokussierung der Aufmerksamkeit beginnen. In der Spätphase wird oft mit komplexeren kognitiven und motorischen Aufgaben gearbeitet.

 

  • Können Sie ein Beispiel geben? 

Jasmin Wolf: Ein Patient mit eingeschränkter Druckwahrnehmung in der Hand könnte gebeten werden, Objekte unterschiedlicher Texturen blind zu ertasten und zu unterscheiden. Parallel dazu könnten Vorstellungsübungen eingebunden werden, bei denen sich der Patient die Bewegung oder das Berühren eines Objekts intensiv vorstellt. 

 

  • Gibt es besondere Herausforderungen in der Therapie von Schlaganfall-Betroffenen?

Birgit Rauchfuß: Eine große Herausforderung besteht darin, die Therapie individuell anzupassen, da Patienten unterschiedliche Ausgangssituationen und Fortschritte haben. Die Neurokognitive Rehabilitation kann jedoch sehr gut an die unterschiedlichen Ausgangssituationen der Klienten/Patienten angepasst werden. Man kann durch veränderte Fragestellungen sowie adaptierte Aufgaben sowie durch das sehr vielseitige Material sehr individuell arbeiten.

 

  • In welcher Rehabilitations-Phase kann das Perfetti-Konzept eingesetzt werden?

Birgit Rauchfuß: Das Perfetti-Konzept kann in jeder Phase der Rehabilitation eingesetzt werden, von der Akut- bis zur Langzeittherapie. In der frühen Phase geht es oft um die Grundlage der Wahrnehmung und ersten Bewegungen, während in späteren Phasen komplexere Funktionen und Alltagsfähigkeiten trainiert werden.

 

  • Wann zeigen sich erste Fortschritte?

Birgit Rauchfuß: In jeder Therapie zeigt sich eine Veränderung. Diese Veränderungen können auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden – sei es körperlich oder mental. Sie können klein und schrittweise oder auch deutlich spürbar sein, abhängig von der Art der Therapie, den individuellen Zielen und der Motivation der betroffenen Person. Jede Veränderung, ob groß oder klein, ist ein Zeichen dafür, dass die Therapie wirkt und ein Fortschritt erzielt wird, der letztlich zur Verbesserung der Lebensqualität beiträgt. 

 

  • Welche Tipps oder Übungen haben Sie für Betroffene zu Hause? 

Birgit Rauchfuß/ Jasmin Wolf: Vorstellungsübungen kann man überall allein machen. Der Patient selbst hat die Kontrolle über seine Beschwerden. Wenn er dies versteht, kann er „rund um die Uhr“ Therapie machen. Eine Beispielübung kann sein, sich vorzustellen, wie man den Haustürschlüssel in die Hand nimmt, wie er sich anfühlt, wie es war, ihn ins Schlüsselloch zu stecken und umzudrehen. Wenn man sich das vorstellt, merken viele schon, dass sie eine Veränderung in der Hand spüren. Denn in dem Moment wird der Bereich im Gehirn aktiviert, der für die Hand zuständig ist.