Im Interview
Dr. Thorsten Böing
leitet die Abteilung Neurorehabilitation beim Hilfsmittelhersteller Ottobock
Herr Dr. Böing, trauen Sie sich eine Schätzung zu? Wie viele Schlaganfall-Patienten sind nicht gut mit Hilfsmitteln versorgt?
Schwierige Frage. Wir wissen: Zweieinhalb Jahre nach dem Schlaganfall leben 50 bis 60 Prozent der Patienten mit dem Hilfsmittel, ohne dass jemand fragt, wie es ihnen damit geht. Das ist ein Problem, das wir lösen müssen.
Worauf kommt es bei der Hilfsmittelversorgung an?
Bei einer guten Versorgung gibt es keine Hilfsmittel von der Stange. Es geht immer um eine individuelle und bedarfsgerechte Versorgung. Am Anfang steht die Sozialanamnese: Wie, wo und mit wem lebt der Patient? Dann folgt – wenn man das Beispiel untere Extremitäten nimmt – eine Ganganalyse.
Und wie erfolgt die konkrete Auswahl des Hilfsmittels?
Die sollte sich am individuellen Bedarf ausrichten. Ein Beispiel: Wenn ein Patient für die Funktionelle Elektrostimulation infrage kommt, aber aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, das Gerät einhändig richtig zu positionieren, fällt das aus. Ein zweites Beispiel: Erkenntnisse aus dem Ganglabor sind ganz wichtig für die Versorgung. Doch dann läuft der Patient durch den Park in seinem Viertel, bleibt mit der Fußspitze im unebenen Rasen hängen und stürzt. So was muss man bedenken. Im Prinzip ist das banal, doch oft wird die Alltagstauglichkeit nicht ausreichend berücksichtigt.
Ist Alltagstauglichkeit ein Gütekriterium für Hilfsmittel?
Ganz klar. Für den Patienten misst sich die Güte eines Hilfsmittels daran, wie gut er damit seinen Alltag meistern kann.
Wann ist der Prozess der Versorgung abgeschlossen?
Das ist ein weiterer Knackpunkt, im Grunde nie. Unser Credo bei Ottobock lautet: Patientenzentrierte Versorgung darf nicht nach der Erstversorgung enden. Was heute de facto fehlt, ist eine dynamische Anpassung von Hilfsmitteln, denn Patienten entwickeln sich weiter.
Wie ließe sich das lösen?
Wichtig ist die multidisziplinäre Betrachtung. Techniker, Therapeut und Arzt beurteilen gemeinsam den Patienten. Und der Patient und seine Angehörigen – ganz wichtig – reden mit. Das ist die große Herausforderung, nur so kann es gut gelingen.
Nach dem Gesetz gibt es den Anspruch des Patienten auf das medizinisch Notwendige, gleichzeitig soll die Versorgung wirtschaftlich sein. Ist das ein Widerspruch?
Nein. Dieses Wirtschaftlichkeitsangebot greift dann, wenn eine funktionell vergleichbare Versorgung günstiger ist. Es muss nicht immer das Maximum sein, wenn weniger ebenso viel hilft. Die optimale Versorgung ist das Ziel, nicht die maximale. Das ist auch mein Standpunkt.
Manche Hilfsmittel sind nicht im sogenannten Hilfsmittelkatalog gelistet. Können Patienten sie trotzdem erhalten?
Ja, können sie. Aber es wird ihnen ziemlich schwer gemacht. Sanitätshäuser reichen ihre Anträge bei der Krankenkasse heute in der Regel elektronisch ein. Wenn sie dort aber keine Hilfsmittelnummer eingeben können, da das angedachte Hilfsmittel nicht oder noch nicht gelistet ist, kann der Antrag über diesen Weg gar nicht eingereicht werden. Das ist juristisch nicht okay, sagt auch die Rechtsprechung, aber leider gelebte Praxis.
Was raten Sie diesen Patienten?
Dennoch beantragen, auf dem Postwege. Und bei Ablehnung können sie Widerspruch einlegen und weitere Schritte gehen, wenn sie das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Vielen fällt das schwer, wir sind hier in Deutschland anders sozialisiert. Aber es ist das gute Recht eines jeden Patienten.
Schlussfrage: Woran erkenne ich ein gutes Sanitätshaus?
Pauschal fällt mir die Antwort schwer. Für die Schlaganfall-Versorgung kann ich sagen: Ein wichtiges Qualitätskriterium ist die Mitgliedschaft im Netzwerk „Mobil nach Schlaganfall“. Wenn jemand solch ein Schild an der Tür hat, kann der Patient sicher sein, dass er auf geschulte Mitarbeiter trifft, die sich mit der ganzen Bandbreite der Versorgung nach Schlaganfall auskennen. Mittlerweile gibt es 40 zertifizierte Häuser in ganz Deutschland.
Vielen Dank für dieses Gespräch.