Um Ärzten und Therapeuten eine fachliche Orientierung zu geben und Patienten optimal zu versorgen, entwickeln medizinische Fachgesellschaften Leitlinien für die Behandlung. Im Herbst 2015 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation ihre Leitlinie „Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall". Dr. Christian Dohle ist einer der Autoren. Er ist Ärztlicher Direktor der Median-Klinik Berlin-Kladow und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation. Mit ihm sprach Mario Leisle über den aktuellen Erkenntnisstand und die wichtigsten Empfehlungen.
Im Interview
Dr. Christian Dohle
Ärztlicher Direktor der Median-Klinik Berlin-Kladow und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation
Herr Dr. Dohle, warum fällt es vielen Schlaganfall-Patienten so schwer, das Laufen wieder zu erlernen?
Mit einem Therapeuten an ihrer Seite gelingt es den meisten Patienten in der Reha sehr schnell, irgendwie wieder auf die Beine zu kommen. Aber oft fehlt es an der notwendigen Sicherheit. Ich muss die Balance halten, muss beweglich sein, muss auf Hindernisse auf dem Boden reagieren und den Kopf drehen können, wenn mich jemand anspricht. Gehen ist ein komplexer Vorgang.
Wenn man die zentrale Lehre der Leitlinie ziehen sollte, könnte die heißen: Üben, üben, üben?
Genau, die ständige Wiederholung ist das Wichtigste. Ich muss das, was ich erreichen möchte, hochfrequent üben. Wichtig ist, dafür das Ziel genau festzulegen: Muss ich gehen lernen oder kann ich es schon und möchte die Gehgeschwindigkeit verbessern? Daraus ergibt sich die optimale Therapie.
Zur Verbesserung der Gehgeschwindigkeit empfehlen sie ein aufgabenbezogenes, progressives Ausdauertraining. Wie kann das aussehen?
Progressives Training bedeutet, wir passen uns immer dem aktuellen Leistungsniveau an. Je besser der Patient wird, desto schneller stelle ich das Laufband, damit er sich weiter steigern kann. Therapeuten nennen das „Shaping". Und es muss sich natürlich um eine gangähnliche Bewegung handeln. Das Laufband ist ein Gerät, was diese beiden Ansätze gut vereint.
Das Training soll intensiv sein. Gibt es auch ein „zu viel"?
Ja, gerade für das Ausdauertraining gibt es klare Kriterien, man richtet sich unter anderem nach der Herzfrequenz. Das ist die Kunst der Therapie, die Patienten an ihre Leistungsgrenze heranzuführen und sie dort zu halten, nicht in Über- oder Unterforderung zu kommen.
Was kann der Einsatz moderner Technik bewirken?
Robotik-gestütztes Training ist seit geraumer Zeit eine Domäne der Gangrehabilitation. Man muss sagen: die Technik hat für die Rehabilitation keinen Wert an sich. Aber für die Therapeuten und die Patienten wäre es deutlich aufwändiger, dasselbe Ergebnis durch konventionelle Therapie zu erreichen. Die Intensität und diese hohe Wiederholungsrate können sie konventionell kaum erreichen.
Werden dadurch auch lange nach einem Schlaganfall Erfolge in der Gangrehabilitation realistisch?
Auch für die chronische Phase sind Verbesserungen dokumentiert, nur die Effekte sind in der Regel kleiner. Aber wenn eine gewisse Fähigkeit da ist, die trainiert werden kann, wird es auch Verbesserungen geben. Das Training muss dann aber intensiv und hochfrequent sein, ambulant wird das aufgrund der begrenzten Ressourcen schwer erreichbar sein.
Wo sehen Sie als Wissenschaftler in der Gangrehabilitation noch Potenzial für eine Weiterentwicklung?
Wir haben mit der Leitlinie einen wichtigen Schritt getan, indem wir die gängigen Verfahren ausgewertet haben. Medikamente scheinen bei den unteren Extremitäten interessanterweise nur wenig zu helfen. Wir müssen jetzt noch besser differenzieren, welche Methoden wir bei einzelnen Patienten einsetzen. Persönlich glaube ich außerdem, dass die Elektrostimulation noch deutlich mehr Potenzial hat. Wie man sie am besten einsetzt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Wie kann sich der Laie die Entwicklung einer solchen Leitlinie vorstellen?
Langwierig, wir haben mehrere Jahre daran gearbeitet. Wir haben tausende Arbeiten gesichtet und schließlich 188 Studien aus aller Welt ausgewertet. Für die gängigen Verfahren gibt es Meta-Analysen, in denen die Ergebnisse mehrerer Studien zusammengefasst sind. Die Studienlage ist mittlerweile recht gut, da muss sich die Rehabilitation nicht mehr hinter der Akutneurologie verstecken.
Was wünschen Sie sich für die neurologische Rehabilitation in Deutschland?
Mehr Wissenschaftsförderung. Unter den Studien gab es sehr wenige deutsche. Es ist hierzulande schwierig, für klinisch relevante Studien eine Förderung zu bekommen. Leider gibt es noch immer keine Uni-Rehaklinik.
Herr Dr. Dohle, vielen Dank für das Gespräch!