Alle müssen umdenken

Das IPW entwickelte gemeinsam mit dem Göttinger Aqua-Institut das Konzept der neuen Qualitätsbeurteilung in der stationären Pflege. Mario Leisle sprach mit dem Pflegewissenschaftler Prof. Wingenfeld über die wesentlichen Neuerungen und die Vorteile für Betroffene und Angehörige.

Prof. Dr. Klaus Wingenfeld

Im Interview:
Prof. Dr. Klaus Wingenfeld
Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW)

  • Herr Prof. Wingenfeld, alle Welt spricht vom neuen „Pflege-TÜV“. Trifft diese Bezeichnung zu?

In sehr allgemeiner Form. Wir haben Instanzen, die darauf achten, dass die Qualität in den Einrichtungen stimmt. Wenn sie bestimmte Anforderungen nicht erfüllen, müssen sie vom Netz gehen, insofern kann man das mit der Aufgabe des TÜV vergleichen. Aber die Qualitätskontrollen sollen Einrichtungen unterstützen, ihre Qualität zu verbessern. Die Prüfer haben einen Beratungsauftrag, da hört die Analogie zum TÜV auf.

  • Das neue System soll mehr Transparenz schaffen, aber manche Kritiker meinen, es sei zu komplex. Was antworten Sie?

Wir denken, in gewisser Weise ist das Verfahren jetzt einfacher. Ganz gleich, ob es um Ernährung, Körperpflege, Mobilität oder andere Aspekte geht, es stehen immer drei Fragen im Vordergrund: Werden die Bedürfnisse der Person ausreichend berücksichtigt? Wird ihr Bedarf, also das, was pflegerisch notwendig ist, ausreichend berücksichtigt? Und sorgt die Einrichtung dafür, dass gesundheitliche Schädigungen vermieden werden?

  • Alle Fragen werden einzeln mit Punkten bewertet. Warum keine Schulnoten mit einer Gesamtnote am Ende?

Diese Diskussion führen wir schon lange. Eine Gegenfrage dazu: Macht es Sinn, die Lesbarkeit eines Speiseplans mit der Wundversorgung in einen Mittelwert zu verwandeln? Im alten System hat man solche Berechnungen angestellt, aber was sagt so eine Durchschnittsnote aus? Der Informationsgehalt für die Betroffenen und Angehörigen ist deutlich besser geworden, man kann jetzt wesentlich detaillierter Informationen erfassen, die für die eigene Situation wichtig sind. Insofern ist es komplexer geworden: Wer sich für die Qualität einer Einrichtung interessiert, muss sich ein paar Minuten eindenken.

  • Wie müssen wir diese Bewertungen denn verstehen? Der Medizinische Dienst vergibt für jede Frage Punkte. Ab wann wird es kritisch?

Fehler kommen vor, es ist das wirkliche Leben. Deshalb haben wir das System so angelegt, dass nicht jeder kleine Fehler gleich als Katastrophe in der Öffentlichkeit erscheint. Wir unterscheiden in: keine/geringe Qualitätsdefizite, da ist alles oder fast alles im grünen Bereich. Es gibt die Wertung „moderate Qualitätsdefizite“, das fällt aus meiner Sicht unter die Kategorie: Ist nicht auf Dauer hinnehmbar, aber Fehler kommen vor, es geht um vereinzelte Versäumnisse. Alles, was danach kommt, kann man als kritisch bezeichnen.

  • Teilweise wird beklagt, die neuen Prüfungen durch den Medizinischen Dienst seien für beide Seiten eine Herausforderung…

Das ist richtig, beide Seiten müssen umdenken. Aber wir wollten weg von einem Frage-und-Antwort-Spiel, in dem es nur darum geht, ob eine Anforderung erfüllt ist. Jetzt haben wir einen fachlichen Dialog auf Augenhöhe, das ist eine große Umstellung, aber so kann der Medizinische Dienst seinen Beratungsauftrag viel besser erfüllen.

  • Neben der externen Prüfung müssen Einrichtungen selbst ihre Qualität dokumentieren nach einem sogenannten Indikatoren-Modell. Was ist daran neu?

Diese Indikatoren bilden ab, was wir als Ergebnisqualität bezeichnen, das gab es bisher nicht. Es ist zum Beispiel Aufgabe der Einrichtung, Informationen darüber zusammenzustellen, wie gut es ihr gelingt, die Mobilität einer Bewohnerin/eines Bewohners zu erhalten. Oder in anderen Bereichen: Wie gut gelingt es der Einrichtung, den Bewohner vor Gefährdungen zu schützen oder seine Selbstständigkeit zu erhalten? Das ist neu, weil die Einrichtungen verpflichtet sind, für alle Bewohnerinnen und Bewohner in regelmäßigen Abständen alle Informationen zu erfassen, die für diese Beurteilung erforderlich sind.

  • Wie läuft das bisher nach Ihrem Eindruck?

Die Einführung ist mit Aufwand für die Einrichtungen verbunden, aber es scheint zu funktionieren. Und es konfrontiert die Einrichtungen verstärkt mit der Frage, inwieweit sie positive Wirkungen für die Bewohner erreichen. Dabei werden sie vergleichend bewertet. Eine Bewertung lautet beispielsweise: Die betreffende Einrichtung kann die Mobilität ihrer Bewohner besser erhalten als der Durchschnitt der Einrichtungen. Wer sich vom Durchschnitt positiv abheben will, muss bessere Wirkungen für die Bewohner erreichen.

  • Der Medizinische Dienst kann bei seinen Begehungen nicht alle Angaben überprüfen, deshalb erfolgt eine elektronische Plausibilitätsprüfung. Wie kann man sich das vorstellen?

Die Informationen der Einrichtungen werden von einer unabhängigen Stelle überprüft, ob sie in sich stimmig sind. Um mal ein ganz einfaches Beispiel zu wählen: Wenn Sie die Information über einen Bewohner haben, dass er zwar ohne Hilfe Treppen steigt, aber sich im Bett nicht mehr nennenswert bewegen kann, dann ist das nicht plausibel. So können Sie verschiedene Informationen elektronisch abgleichen und überprüfen, ob sie ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

  • Erwarten Sie, dass die Schere zwischen den Einrichtungen in der Bewertung künftig weiter auseinandergeht?

Ja, das System ist ja so angelegt. Es können nicht alle überdurchschnittlich gut sein.

 

Herr Prof. Wingenfeld, vielen Dank für dieses Gespräch.