Reha ist hoch qualifiziert

Können Fachleute vorhersehen, welche Fortschritte Betroffene in ihrer Rehabilitation machen? Diese und andere Fragen stellte Mario Leisle an Prof. Dr. Mario Siebler.

Reha ist hochqualifiziert

Im Interview
Prof. Dr. Mario Siebler
Ärztlicher Direktor der Mediclin Fachklinik Rhein/Ruhr in Essen



  • Herr Prof. Siebler, kurz gefasst: Was ist das Ziel der Rehabilitation?

Das Ziel ist, Patienten wieder in ihr alltägliches Leben einzugliedern und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es geht darum, die körperlichen Funktionen zu verbessern, die nach einem Schlaganfall beeinträchtigt sind. Aber auch darum, mit den bleibenden Folgen im Alltag zurechtzukommen, physisch und psychisch.

 

  • Früher sprach man gerne von einer Kur...

Das tun viele Patienten heute noch, aber diese Vorstellung hat nichts mehr mit der modernen neurologischen Rehabilitation zu tun. Die Reha ist medizinisch und therapeutisch hoch qualifiziert, mittlerweile auch stark technisiert und deshalb sehr leistungsfähig.

 

  • Was hat sich verändert?

Früher lagen die Patienten viele Wochen in der Akutklinik, bevor sie in die Reha kamen. Heute passiert das bereits nach fünf bis sechs Tagen. Also bekommen sie viel früher eine Rehabilitation. Das ist gut so, aber wir müssen die Behandlung entsprechend anpassen und Diagnostik ergänzen.

 

  • Wie kommen Patientinnen und Patienten zu Ihnen in die Klinik?

Da muss im Vorfeld viel geklärt werden, insbesondere durch die Sozialdienste. Der Antrag wird aus der Akutklinik gestellt, die Krankenkasse sucht eine Klinik aus und stellt uns den Patienten schriftlich vor. Ich muss dann entscheiden, ob wir ihn oder sie behandeln können. Wenn wir zusagen, kommt der Patient zu uns in die Klinik und es wird überprüft, in welcher Rehaphase er sich befindet. Das ist wichtig, weil sich die Behandlungsprogramme stark unterscheiden.

 

  • Formal können Patienten ihre Rehaklinik frei wählen.

Ja, aber sie sollten die Wahl begründen können. Es macht Sinn, wenn zum Beispiel Nebendiagnosen mitbehandelt werden sollen, für die man eine Kardiologie oder eine Orthopädie benötigt. Patienten und Angehörige sollten auf jeden Fall mitsteuern, denn für uns Kliniker ist nichts unangenehmer, als wenn der Patient eigentlich in eine ganz andere „Wunsch“-Klinik wollte.

 

  • Wie sieht der Aufnahmeprozess in Ihrer Klinik aus?

Zunächst werden die formalen Dinge geklärt und geschaut, ob z. B. die Unterlagen wie Arztberichte oder Bildaufnahmen vollständig sind. Parallel erfolgen die pflegerische Aufnahme und Versorgung und die ärztliche Aufnahme, anschließend schauen sich die Therapeuten den Patienten an. Aus diesen Untersuchungen entwickeln wir gemeinsam das Therapie- und Diagnostikprogramm und formulieren die Reha-Ziele, die wir erreichen wollen. Natürlich gibt es auch eine Einführung in die Klinik und Informationsveranstaltungen.

 

  • Dann läuft dieses Programm über drei Wochen?

Das ist ein ständiger Anpassungsprozess, wenn wir feststellen, dass die Ersteinschätzung nicht zutrifft oder sich Veränderungen ergeben haben. Bei Schlaganfall-Patienten müssen wir oft Begleiterkrankungen behandeln, zum Beispiel einen Bluthochdruck einstellen oder eine Arthrose schmerztherapeutisch behandeln, damit wir die Patienten schnell mobilisieren können. Die meisten Patienten kommen mit drei Wochen nicht aus, für sie beantragen wir eine Verlängerung.

 

  • Sieht die Reha bei jüngeren Patienten anders aus als bei älteren?

Ja, da hier die Ziele der beruflichen Wiedereingliederung dazukommen. Sie erhalten zum Beispiel mehr Ergotherapie, um Einschränkungen im Beruf durch Hilfsmittel auszugleichen. Es gibt auch viele Informationen, wie es im Beruf weitergehen kann. Für die schwer Betroffenen gibt es Rentenberatungsgespräche.

 

  • Viele Patienten leiden an unsichtbaren Folgen. Werden die genauso intensiv behandelt wie die körperlichen Einschränkungen?

Ja, unbedingt! Die Reha ist eigentlich der einzige Platz, der kognitive Einschränkungen durch Neuropsychologen systematisch erfasst. Wir haben einen erheblichen Anteil an Patienten mit solchen Einschränkungen, die wir in der Reha testen, auch auf ihre Fahrtauglichkeit, und dann entsprechende Therapieprogramme aufstellen. Aber es gibt zu wenig niedergelassene Neuropsychologen für die Nachversorgung.

 

  • Können Sie Prognosen stellen?

Damit sollte man gerade in der Frühphase vorsichtig sein. Wir haben natürlich viel Erfahrung, aber wir irren uns auch manchmal gewaltig. Wenn die stationäre Reha nach drei oder sechs Wochen zu Ende ist, heißt das nicht, dass es kein Potenzial mehr gibt. Das wäre die falsche Botschaft, man sollte den Rehaprozess über ein bis zwei Jahre betrachten und planen. Viele Patienten erholen sich dann immer noch.

 

  • Wie ambitioniert sollten Reha-Ziele sein?

Man muss Patienten dort abholen, wo sie stehen. Es gibt Sportler, die sind kämpfen gewohnt. Aber irgendwann erreicht jeder sein Limit. Dann muss man darüber sprechen, wie man damit leben kann. Wenn wir in diesen Dialog kommen, ist es ein guter Rehabilitationsprozess. Es macht ja keinen Sinn, den Patienten immer zu sagen, sie müssen viel mehr trainieren, wenn es nicht mehr vorangeht. Das ist auf Dauer hochfrustrierend und kontraproduktiv.

 

  • Welche Rolle spielen Angehörige?

Eine ganz wichtige. Manchmal spreche ich mehr mit den Angehörigen als mit den Patienten. Wenn der Angehörige aufgibt, dann geht oft nicht mehr viel. Angehörige, Therapeuten, Ärzte – die bilden ein Team mit den Patienten, das stehen muss. Sonst ist die Prognose schlecht.

 

  • Was ist das Wichtigste bei der Entlassung aus der Reha?

Sie brauchen vor allem eine gute hausärztliche Betreuung, um die weitere Behandlung zu organisieren. Ich glaube, 30 Prozent haben gar keinen Hausarzt. Das ist erst mal wichtiger als ein Neurologe.

 

Herr Prof. Siebler, vielen Dank für das Gespräch.