Fünf Jahre bis zur Diagnose

Patienten mit seltenen Schlaganfall-Ursachen haben oft einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie an einen Experten für ihre Erkrankung geraten. Einer dieser Experten ist der Neurologe Prof. Dr. Markus Krämer, Leitender Oberarzt am Alfried Krupp Krankenhaus in Essen. Mit ihm sprach Mario Leisle.

Prof. Dr. Markus Krämer

Im Interview
Prof. Dr. Markus Krämer
Leitender Oberarzt am Alfried Krupp Krankenhaus in Essen

  • Herr Prof. Krämer, Sie behandeln viele junge Schlaganfall-Patienten. Weshalb?

Junge Schlaganfälle, sagen wir bei Menschen unter 45, sind etwas Außergewöhnliches. Bei diesen Schlaganfällen ist es besonders wichtig, eine dezidierte Suche nach den Ursachen durchzuführen. Im Alfried Krupp Krankenhaus beschäftigen wir uns viel mit seltenen, gefäßbedingten Schlaganfall-Ursachen wie z. B. mit der Moyamoya-Angiopathie und der zerebralen Vaskulitis. Das sind aus meiner Sicht zwei Beispielerkrankungen für Patienten, die in unserem Gesundheitswesen keine Lobby haben.

  • Was meinen Sie mit „keine Lobby“?

Viele Patienten haben das Problem, dass die Krankenkasse ihre Erkrankung gar nicht kennt. Sie haben Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme für Medikamente, weil es dafür keine großen Studien gibt. Die kann es aber gar nicht geben, weil es einfach zu wenig Betroffene gibt. Hinzu kommt ein Krankenhaus-Abrechnungssystem, das diese Patienten eindeutig benachteiligt.

  • Inwiefern?

Abgerechnet wird nach sogenannten DRGs, „Diagnosis Related Groups“. Krankenhäuser erhalten, um es salopp auszudrücken, einen „All-inclusive-Preis“. Belohnt wird dadurch Schnelligkeit, nicht Gründlichkeit. Die Diagnose seltener Schlaganfall-Ursachen erfordert einen viel höheren Aufwand, vor allem interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das wird nicht honoriert.

  • Können Sie das an Beispielen verdeutlichen?

Ja. Wir haben uns eine Gruppe von 192 europäischen Patienten angeschaut, die an der Gefäßerkrankung Moyamoya leiden. 62 Prozent waren fehldiagnostiziert und die Dauer bis zur richtigen Diagnose betrug im Schnitt 5,2 Jahre.

  • Was haben diese Patienten denn fünf lange Jahre geglaubt, woran sie leiden?

Das waren Fehldiagnosen wie Migräne oder multiple Sklerose, sehr häufig leider auch psychosomatische Erkrankungen. Damit einher geht oft auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung, die Patienten kommen sich teilweise vor wie Hypochonder.

  • Und sie erhalten keine Therapie.

Das ist die Tragik daran: Wenn man eine Erkrankung fehldiagnostiziert, läuft natürlich keine zielgerichtete Therapie oder sogar eine Fehltherapie. Viele Patienten haben in diesen 5,2 Jahren weitere Schlaganfälle erlitten, die man mit einer zielgerichteten Therapie – im Falle von Moyamoya mit einer Bypass-Operation – hätte verhindern können.

  • Ist so eine Fehldiagnose denn ein Kunstfehler?

Ich kenne tatsächlich einige tragische Verläufe, bei denen Patienten oder Angehörige gegen Kliniken klagen. Aber es ist im engeren Sinne meist kein Kunstfehler, weil die Diagnose medizinisch trotzdem stimmig erschien.

  • Muss es denn erst zum Schlaganfall kommen, damit die Diagnostik einsetzt?

Sehr gute Frage. Die Vorsymptomatik ist oft so unspezifisch, dass man nicht bei jedem Patienten an seltene Schlaganfall-Ursachen denkt. Mein Appell an die ärztlichen Kollegen lautet: Symptome gerade bei jungen Leuten ernst nehmen und weiter am Ball bleiben, das ist schon wichtig.

  • Neben dem eindringlichen Appell: Was kann man tun?

Lobbyarbeit betreiben, dafür haben wir in Essen den Moyamoya-Verein gegründet. Aufklären, so wie wir es bei unseren Patienten-Veranstaltungen gemeinsam mit der Deutschen Schlaganfall-Hilfe tun. Und für viele Patienten ist die Selbsthilfe enorm wichtig. Dort erfahren sie Verständnis und erleben, dass sie mit ihrer Erkrankung nicht allein sind.

 

Herr Prof. Krämer, vielen Dank für das Gespräch.

 

 

Thala - Das Gesundheitsmagazin der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe
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